Fotoworks

Fotoworks 1990 - 2020 


Thomas Hirsch

Formen des Tagtäglichen


Der Düsseldorfer Ernst Hesse ist Bildhauer, Zeichner, Maler, Foto- und Videokünstler. Die Motive des einen Mediums kehren im anderen wieder, Ausweitung und Konzentrierung gehen

hier Hand in Hand. Dazu gehören die Verfahren der Systematisierung, des Erstellens von Werkreihen. Entsprechend handelt Hesse seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mit dem Sujet

des Brotes. Genommen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen, sind Fotoarbeiten wie auch Bronzeabgüsse entstanden. Die fotografischen Bilder sind s/w, aber zumeist als Silbergelatineabzug solarisiert und im Entwicklungsvorgang überarbeitet. Infolge der Schlieren und der überstrahlten hellen Partien finden sich tonale Abstufungen an den Grenzen zur Farbigkeit. Die abgelichteten Brotlaibe wirken geradezu plastisch, zumal das bevorzugte Format von 30 x 40 cm in Beziehung zur tatsächlichen Größe der Brote steht. Ernst Hesse hat

die Brote von seinen weltweiten Reisen in das Düsseldorfer Atelier mitgebracht; sie stammen vom Markt oder vom (eingesessenen) Bäcker, für die ansässige Bevölkerung sind sie tagtägliche Produkte, für den Verzehr gebacken und über Generationen hinweg immer gleich hergestellt und mithin einer Tradition, einem Kulturkreis zuzuordnen.

Frank wild years, 2009

dedicated to F.Gehry


Im Titel der Fotoarbeiten werden der (gebräuchliche) Name des Brotes und seine Herkunft mitgeteilt. Die dokumentarische Sachlichkeit, die mit der motivischen Ausschließlichkeit einhergeht, trifft mit der Spezifikation zusammen; Entrückung und Präsenz sind hier eins. Die Flächen und Kanten des Brotes wirken meistens fest, hart. Unregelmäßigkeiten sind herausgearbeitet, Einbuchtungen sind tiefschwarz verschattet, mitunter wäre an erkaltete Lava oder Gestein von der Mondoberfläche zu denken, überliefert vielleicht vermittels Satellitenfotos und wie Zeugnisse von einem unerforschten Planeten, gegeben auf einer Fläche ohne Horizont. Einige Brote nehmen, zentriert und aus der Untersicht aufgenommen, die ganze Bildhöhe ein. Wieder andere sind von oben gesehen, so dass der Schatten das Brot umfließt und dessen Form wie eine Korona wiederholt. In den Fotoarbeiten, die ab 2001 entstanden sind, verlieren die Laibe dann oft an Dominanz, sie fügen sich in die Umgebung, in deren Tiefe sie sich teils erstrecken. Der Bildgrund ist nun weich, lichthelle Spritzer liegen über dem Geschehen und vermitteln die Idee abstrakter Malerei, wobei das Brot selbst wie gemeißelt wirken kann. Zu diesem Prozess der Annäherung und des Abtastens der Form gehört, dass Hesse einzelne Motive positiv und negativ abgezogen und dabei unterschiedlich behandelt hat.






personal Mountains, 2012


Dieses Interesse an der Gestalt initiiert ein Assoziieren und stiftet gesellschaftliche Zusammenhänge. Die Momente der Kultur, aber auch des Kultischen werden über die Künstlichkeit im Vortrag zurückgeholt. Die Fotoarbeiten mit Broten gehören zum Werkkomplex „Identität“. Mit wechselnden Medien umkreist Hesse hier die Vorstellungen von Individualität und vom Pluralismus der Formen. Es geht um elementare Situationen des Lebens und das Aufgehen alltäglicher Dinge in der kulturellen Tradition ... Wichtig ist der Hinweis, dass Hesse seit Ende der achtziger Jahre oft auf Einladung des deutschen Goethe-Instituts weltumspannend Ausstellungen und Workshops mit ansässigen Künstlern durchgeführt hat. Ein Grundgedanke hier – wie überhaupt bei Ernst Hesse – ist es, ein sensibles Verständnis für Formen und Riten in ihrer Bedeutung und ihrem Eigenen zu entwickeln. Die Brote sind für Hesse implizit noch eine Art Dokumentation seiner Reisen, und vielleicht entsteht daraus so etwas wie ein Archiv ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Dem Brot ist eine Beiläufigkeit eigen, welche aber völlig konträr zu seiner Relevanz ist, entsprechend dem Wasser, das in anderen Fotoarbeiten von Ernst Hesse vorkommt. Die Bedeutung von Wasser und Brot wird uns, innerhalb unserer westeuropäischen Kultur, aus der biblischen Überlieferung weiter vor Augen gestellt, beides ist ebenso in anderen Religionen und Kulturkreisen präsent und findet sich in seiner Metaphorik in allen Ländern und Jahrhunderten: Sie sind Ausdruck für Leben und Überleben. 

Bei Ernst Hesse sind die Brote zudem widerspenstige Solitäre im Globalisierungs-Prozess.


Bread - Fragments of Identity, 2000-2019

. . . Fotoworks & Objects
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Ernst Hesse thematisiert gesellschaftliche Fragen, den verantwortungsvollen Umgang in und mit der Welt. Das künstlerische Medium aber, mit dem er das von Anfang an behandelt hat, ist die Bildhauerei. So arbeitet er in Gusseisen und Bronze, die Gipsformen selbst haben als skulpturale Arbeiten Bestand, werden zum Teil objekthaft in Gestellen angeordnet. Diese Werke kennzeichnet bis heute eine primäre Formensprache, welche Stereometrien subtil versetzt. Evident ist das Interesse an Oberflächen, häufig verwendet Hesse CorTen-Stahl, der sich in der Natur weiter verändert. Hesse fordert mit seinen plastischen Arbeiten zur Umgehung auf, setzt diese präzise zu Architektur und formuliert, definiert dabei Räume. In den Fotoarbeiten mit Broten hat Ernst Hesse derartige Aspekte auf der Fläche weiter verfolgt, aber er hat auch die Brote selbst in Bronze abgegossen. Er hat sie damit realiter der Vergänglichkeit und jeder Zeit, aber auch ihres eigentlichen Zwecks enthoben. Er steigert das Besondere, indem er sie zum Artefakt erhebt. Und er verleiht ihnen Einzigartigkeit und verdeutlicht jede Form als Ausdruck bewusster Entscheidungs-, auch Erkenntnisprozesse. – Hesses Arbeiten mit dem Motiv des Brotes, ob als Bronzen oder Fotoarbeiten, fordern ungeteilte Aufmerksamkeit. Als Stilleben handeln sie gerade nicht von Vanitas, sondern vom Überleben und dessen stolzer Behauptung. Bei Ernst Hesse stehen sie für den Versuch, immer und immer wieder dem Geheimnis und der Schönheit des Lebens näher zu kommen, formuliert zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Isoliertheit und (Welt-) Gemeinschaft. Sie fordern ein genaues Hinsehen und insistieren darauf, sich der Dinge des Alltäglichen zu vergegenwärtigen: ihre Geschichte, Kultur und ihre Bedeutung zu bedenken.


Textauszug: Dr. Thomas Hirsch, Broschüre, Das Gesicht des Brotes/ Museum der Brotkultur, Ulm 2004



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